Psychische Gesundheit „Man muss aufmerken, wenn ein Kind sich zurückzieht“ Maria Hugo In Deutschland zeigen aktuelle Statistiken einen besorgniserregenden Trend: Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen Erkrankungen. Ein Gespräch mit Dr. Annegret Brauer über die Gründe dafür und mögliche Vorbeugung. Besonders deutlich wurde dieser Anstieg im Zuge der Corona-Pandemie. Bereits vor der Pandemie war ein kontinuierlicher Anstieg zu beobachten: Zwischen 2011 und 2019 stieg der Anteil psychischer Erkrankungen bei stationären Klinikaufnahmen von 10- bis 17-Jährigen von 13 % auf 16 %. Die Pandemie wirkte dann wie ein Brennglas – familiäre Belastungen, soziale Isolation und Unsicherheiten im Alltag verstärkten bestehende Probleme und führten vielerorts zu neuen psychischen Belastungen. Dr. med. Annegret Brauer, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit Praxis in Halle gibt im Interview einen Überblick, was Eltern tun können, um ihre Kinder seelisch zu unterstützen. Dr. Brauer ist Vorstandsmitglied des Berufsverbands der niedergelassenen Kinderpsychiater:innen bkjpp und Mitglied im Aufsichtsrat der Stiftung „Achtung!Kinderseele“. Die Zahl der depressiven Kinder scheint in den letzten Jahren deutlich gestiegen zu sein. Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptursachen für diese Entwicklung? Dr. med. Annegret Brauer: Wenn wir eine strenge Diagnostik anlegen, können wir nicht mit Sicherheit sagen, dass speziell die depressiven Erkrankungen gestiegen sind. Aber es gibt auf jeden Fall eine Zunahme psychischer Störungen und Symptomatiken. Einerseits durch die Pandemie, die viele Eltern verunsichert hat und in vielen Familien Probleme verschärft hat. Andererseits müssen wir einen kritischen Blick auf Social Media werfen. Die psychischen Probleme von Kindern haben mit der allgemeinen Verbreitung von Smartphones zugenommen. Welche Warnzeichen sollten Eltern und Lehrer ernst nehmen, wenn sie Veränderungen bei Kindern bemerken? Man muss aufmerken, wenn ein Kind sich zurückzieht und immer stiller wird. Wenn es weniger soziale Kontakte hat, weniger Freude zeigt, wenn es zu nichts Lust hat und häufig müde ist. Das sind typische Symptome für eine beginnende depressive Entwicklung. Was verstehen Sie unter Resilienz bei Kindern und warum ist Sie so zentral für die psychische Gesundheit? Zum Glück sind Kinder per se resilient. Wir Erwachsenen sind in unseren Reaktionen auf Veränderungen im psychosozialen Umfeld viel vulnerabler. Wir sind festgefahrener, wir haben unsere Abläufe. Kinder sind noch beweglicher. Insofern können wir erstmal auf eine gesunde Resilienz bei den Kindern vertrauen. Eine schwierige Phase beginnt mit etwa 12 oder 13 Jahren, mit der Pubertät. Da findet die körperliche Entwicklung, besonders auch die Entwicklung des Nervensystems, so fulminant statt, dass es eine empfindliche Zeit ist. Resiliente Kinder halten das aus. Die nehmen weiter am Leben teil. Die haben zwar Krisen, aber sie gehen weiter in die Schule und den Sportverein und können ihre Freundschaften weiter pflegen. Das sind typische Merkmale für Resilienz. Welche konkreten Maßnahmen können Eltern im Alltag ergreifen, um die seelische Widerstandskraft ihrer Kinder zu fördern? Da möchte ich auf die Arbeit der Stiftung „Achtung!Kinderseele“ verweisen, für die ich mich ehrenamtlich engagiere. Auf der Homepage gibt es drei wunderbare Erklärfilme zur Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und ein tolles Poster mit ganz praktischen alltagsnahen Tipps, wie man Vorschulkinder seelisch stärken kann – nämlich z.B. durch Bewegung, wertschätzende Kommunikation und das konsequente Setzen von Grenzen. Auch genügend Schlaf und regelmäßiges gemeinsames Essen ohne Ablenkungen durch Medien sind zwei oft unterschätzte Mittel, um die Psyche stabil zu halten. Und welche Rolle spielen Bezugspersonen außerhalb der Familie, etwa Lehrer oder Trainer, bei der Resilienzbildung? Eine sehr große Rolle und im besten Falle eine sehr positive. Da zitiere ich gerne das afrikanische Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Manchmal ist es für Kinder aus einem schwierigen Umfeld ein großer Glücksfall, wenn es eine Lehrerin oder eine Trainerin gibt, die sich für sie interessieren, sie wertschätzen und positives Feedback geben. Das kann eine große Rolle für eine positive Entwicklung eines Kindes spielen. Kann überbehütende Erziehung tatsächlich das Risiko für Depressionen erhöhen? Wo liegt die Grenze zwischen Fürsorge und Überkontrolle? Die überbehütende Erziehung ist in der Tat ein Risiko für psychische Probleme, weil die Botschaft der Überbehütung ja ist: „Ich traue dir nichts zu, denn du bist klein und zu schwach.“ Das Kind zweifelt dann ständig an seinen eigenen Fähigkeiten. Wenn wir überkontrollierend sind und dem Kind keinen Freiraum geben, sind wir in unserer eigenen Angst gefangen, übertragen sie auf das Kind und nehmen ihm die Chance, sich auszuprobieren und Erfolgserlebnisse zu haben. Fürsorge ist sehr wichtig, aber eben auch loslassen können und sagen können, ich traue dir das zu, geh deinen Weg. Und wie können Eltern ein gesundes Maß an Freiheit und Sicherheit für ihre Kinder finden, gerade in einer Welt voller Risiken und Ängste? Ich appelliere immer an die Eltern, an ihre eigene Kindheit und Jugend zu denken. Was hat man nicht alles angestellt ohne dass irgendwelche Katastrophen passiert sind! Ich plädiere dafür, den Kindern eher ein Stückchen mehr Freiheit zu geben und in ihre Fähigkeit zur Selbstregulation zu vertrauen. Die Kriminalstatistiken zeigen, dass die Kriminalität nicht zugenommen hat, es scheint nur so, weil viel mehr darüber berichtet wird. Und wie können Eltern das Selbstwertgefühl Ihrer Kinder stärken, ohne sie zu überhöhen oder narzisstische Züge zu fördern? Das Selbstwertgefühl der Kinder kann gestärkt werden, indem man sie nur dann lobt, wenn das wirklich berechtigt ist. Narzisstische Züge können entstehen, wenn wir alles loben, was das Kind macht. Dann fängt es irgendwann an, Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, weil es in der Schule vielleicht etwas ganz anderes hört. Also Lob da, wo das Lob auch passt, aber nicht wie eine Gießkanne über alles. Denn dann kann das Kind nicht mehr unterscheiden, worin bin ich wirklich gut. Und deswegen unbedingt gezielt loben. Das stärkt das gesunde Selbstwertgefühl der Kinder. Und was sind sinnvolle Wege, Kindern beizubringen, stolz auf sich selbst zu sein und gleichzeitig empathisch und teamfähig zu bleiben? Der beste Weg, den ich allen Eltern empfehle, sind Gemeinschaftsaktivitäten, z.B. im Sportverein oder im Chor. Denn da lernen wir, bei einem Wettkampf oder einem Auftritt mit einer Gruppe zusammen etwas zu entwickeln und zu präsentieren und darauf zurecht stolz zu sein, in Gemeinschaft. Was wünschen Sie sich von Politik und Gesellschaft, um Kinder psychisch besser zu schützen und Eltern in ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen? Das größte Risiko für ein Kind, psychische Symptome zu entwickeln, ist Armut. Das heißt, jede Maßnahme der Politik und der Gesellschaft, die verhindert, dass Kinder in Armut aufwachsen, indem bedürftige Familien finanziell unterstützt werden, schützt Kinder. Sportvereine und Stadtteilzentren müssen unterstützt werden, der öffentliche Nahverkehr auf dem Land muss unterstützt werden. Das ist die beste Maßnahme, um Kindern ein gesundes psychisches Aufwachsen zu ermöglichen. Arme Familien und ihre Kinder leiden unter Stress: zu kleine Wohnungen, kein Geld für Hobbys, kein Urlaub, Schulden, viel zu viel Arbeit, gerade bei Alleinerziehenden. Kinder und ihre Familien aus der Armut zu holen, das wäre die beste Prävention.