Lesen

Weshalb das Lesen von Geschichten wichtig ist

Die Welt wimmelt voller Geschichten mit Helden und Schurken, Komödien und Tragödien. Selbst ein kurz und knapp gehaltener Bericht über den Gang zum Supermarkt kann so gestaltet werden, dass Information und Unterhaltung kreativ gestaltet aufeinander treffen. 

Der Drang, sich der Umwelt mitzuteilen ist tief im menschlichen Wesen verankert und folglich haben sich über Jahrtausende die unterschiedlichsten Formen des Erzählens gebildet. Erzählungen formen gleichzeitig den Menschen und die Welt. 

Doch was sind eigentlich die Funktionen des Erzählens und was macht das Lesen und Vorlesen beim Erlernen einer Sprache so wichtig?

Erzählungen fördern Sprache und Kreativität


Erzählen, Lesen und Vorlesen sind wichtige Aktivitäten beim Spracherwerb, sei es die Muttersprache oder eine Fremdsprache. Jeder, der sich mit einer Sprache ein wenig intensiver aussetzen möchte als bloß ein paar Sätze für den Urlaub zu lernen, stößt bei Recherchen irgendwann auf den Tipp: Geschichten lesen! Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob es der neueste Thriller oder hohe Kunst ist: jede neue Geschichte bringt neue Wörter, Satzstrukturen und auch neue Inhalte mit sich. So wird das Sprachzentrum angeregt und in der Regel das Verlangen nach weiterer Information verstärkt. Wer liest einen spannenden Roman von Dan Brown zum Beispiel nicht gern zu Ende oder gibt sich bereits mit „Harry Potter und der Stein der Weisen“ zufrieden?

Gerade für Kleinkinder ist es besonders wichtig, dass sie möglichst früh mit einem hohen Maß an Sprache in Berührung kommen. Wie greenstories.de berichtet, haben Kinder im Alter von sechs Jahren bereits einen passiven Schatz von 14.000 verschiedenen Worten angesammelt. Das bedeutete, dass seit der Geburt pro Tag bis zu neun Worte aufgenommen wurden. Doch es ist nicht Quantität allein die über einen guten Sprachschatz entscheidet, viel mehr kommt es auf die Qualität an. Sogenannter Baby Talk, also das übertrieben vereinfachte und langsame Sprechen mit hoher Stimme, sollte unbedingt vermieden werden, da es die sprachliche Kreativität des Kindes nicht reizt. Eltern, die sich unsicher über die eigenen sprachlichen Fähigkeiten sind, sollten zu guten Kinderbüchern greifen und vorlesen. Hier bekommen sie korrekte und auch komplexe Sprache vorgegeben und brauchen sich nur noch um ein angemessenes Tempo und die Aussprache sowie Betonung zu kümmern.

Für Kinder ist das Erleben der Sprache auch wichtig, um die eigenen Fähigkeiten auszuloten und um ihre Kreativität zu fördern. Berichte über erste Erlebnisse sind für viele Kinder etwas ganz besonderes und geschehen manchmal auf einem verblüffend hohen sprachlichen Niveau. So werden Objekte beispielsweise aufgrund ihrer Eigenschaften hin näher beschrieben und Kinder sagen Sätze wie: „Ein Löffel, mit dem man isst.“ Manchmal kommt es gleich zu ganzen Sprachneuschöpfungen wie „Provozist“ (statt „Provokateur“) oder recht ungewöhnlichen Wortkombinationen: „Die Nutella schmeckt schön?“ oder „Ach Mann, bin ich heute aus dem Wind.“ 

Ähnlich kreativ sind meistens nur Nicht-Muttersprachler – wenn Giovanni Trapattoni zum Beispiel ‚fertig hat‘ – Menschen aus der Werbe- und Medienbranche („unkapputbar“) oder Schriftsteller. Schillers Tell hat beispielsweise der deutschen Sprache einige neue Volksweisheiten hinzugefügt („Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“) und spätestens seit den „Herr der Ringe“-Filmen kann sich ein großer Teil der Menschen auch etwas unter Hobbits, Elben und Orks vorstellen.

Doch die durch Erzählungen hervorgerufenen Bilder sind keineswegs alle so fantastisch und furchteinflößend wie die vorgestellten Beispiele. Oft ist es sehr interessant Kinder während oder nach dem Vorlesen zu fragen, wie sie sich einzelne Szenen vorstellen. Wie und warum zum Beispiel stiehlt ein Räuber eine Kaffeemühle oder sieht ein Wolf als Großmutter verkleidet nicht irgendwie komisch aus? Jedes einzelne Kind hat seinen ganz eigenen Zugang zu Realität und Fantasie und so kommt auch jedes Kind auf ganz eigene Bilder. Teilweise entstehen sogar Beschreibungen, die sich perspektivisch so sehr von den Vorstellungen der Eltern unterscheiden, dass das kreative Potential des Kindes für die Erwachsenen sogar erhellend sein kann.

Erzählungen ordnen die Welt

Neben der Förderung sprachlicher und schöpferischer Fähigkeiten haben Geschichten und vor allem das Lesen und Erzählen von Geschichten weitere Funktionen. So sind Klatsch und Tratsch beispielsweise nicht immer abzuwerten, zumindest je nach Position. Laut welt.de ist diese Form der Kommunikation in gewissem Sinne natürlich und stärkt den Zusammenhalt von kleineren Gruppen, indem sich etwa miteinander solidarisiert wird. Wenn Kinder von ihren Tageserlebnissen berichten steckt meist auch mehr als ein rein informativer Aspekt dahinter. Vielmehr geht es darum, durch das Teilen der eigenen Erlebnisse Bestandteil der Erwachsenenwelt zu werden und sich dort Gehör zu verschaffen.

Abseits von kommunikativen Aspekten haben Narrative – also erzählende Texte – zusätzlich die Funktion die Welt zu ordnen. Laut der Schriftstellerin Muriel Rukeyser besteht das Universum nämlich aus Erzählungen, nicht aus Atomen. Was im ersten Moment vielleicht etwas befremdlich wirkt, wird wahrer, je länger darüber nachgedacht wird. Schließlich brauchen auch Wissenschaftler das Werkzeug der Sprache, um ihre Entdeckungen der Öffentlichkeit zu berichten. Die Anordnung der Welt wird also zu großen Teilen davon bestimmt, wie darüber erzählt wird. 

Weitere Funktionen von Erzählungen sind:

  • Die Erklärung der Welt
  • Die Anweisung zum Verhalten
  • Das Bilden eines „moralischen Kompass“
  • Das Erschaffen und verbreiten von Idealen


Der Titel Erklärung der Welt klingt vielleicht ein wenig hochtrabend. Doch bei näherer Betrachtung wird klar, dass es keine bekannte Kultur gibt, die sich nicht gegenseitig durch Geschichten erklärt, wie die Welt funktioniert. Meistens gibt es sogar eine zentrale Geschichte davon, wie die Welt entstanden ist. In vielen Kulturkreisen existieren Erzählungen, die davon berichten, wie ein bestimmter Gott die Erde erschaffen hätte. Selbst die Urknall-Theorie ist ein Narrativ, das einer bestimmten Gruppe dazu dient, die Welt zu verstehen.

Es gibt aber weitaus mehr Geschichten, die Anweisungen zu einem bestimmten Verhalten als Inhalt haben. Sei es die Geschichte, wie Moses den Menschen die zehn Gebote brachte oder die Moral irgendeiner Fabel. Ein großer Teil an Erzählungen verfolgt das Ziel eine bestimmte Perspektive näher zu beleuchten, vielleicht auch überhaupt zugänglich zu machen und eine gewisse Verhaltensweise vorzuschlagen. Märchen verfolgen einen ganz ähnlichen Ansatz, wobei hier eher von einem moralischen Kompass gesprochen werden kann. Die meisten Märchen sind durchaus komplexer als oft angenommen und für eine Vielzahl an Figuren ist ein plakatives Schwarz-Weiß-Denken mit der Unterscheidung „Gut“ und „Böse“ nicht möglich. Vielmehr müssen die Leser/Hörer selbst entscheiden, wer welche Rolle in der Erzählung spielt und ob eine Strafe für Bösewichte angemessen ist. Nicht zuletzt – und verwandt mit den anderen Funktionen – helfen Geschichten dabei, Ideale zu verbreiten. Wer eine große Menge an Texten vergleicht, wird feststellen, dass es bestimmte Einstellungen gibt, die immer wieder verarbeitet werden. Viele religiöse Erzählungen beschäftigen sich mit einem gütigen Gott oder damit, dass Menschen untereinander hilfsbereit und gnädig sein sollen. Außerhalb der Religion gibt es aber auch Gemeinplätze wie die „Schönheit des Lebens“ oder die „Stärke von Liebe“, die in vielen Texten behandelt werden.

Erzählungen unterhalten


Ein wesentlicher Aspekt des Erzählens hat wieder mit dem vorher erwähnten Klatsch und Tratsch zu tun. Schließlich sollen Erzählungen vor allem für eine Sache sorgen: Unterhaltung.

Hierbei ist es gänzlich egal, wer unterhalten werden soll. Für jede Zielgruppe gibt es die geeignete Art von Literaturkonsum. Beim Stillen Lesen können fremde Kontinente, ganze Welten und andere Zeiten ergründet werden und so den Leser selbst unterhalten. Ein Zusammenspiel von Sprachkompetenz, Weltwissen und Fantasie fördert vor allem die eigene Bildung und dient zur Entspannung. Außerdem ist das Lesen immer noch ein gern gesehenes und prestigeträchtiges Hobby.

Eine bequemere Form des Konsums ist das Zuhören beim lauten Vorlesen einer Geschichte. Wie die Umsatzanteile von generell belletristischen Büchern am Hörbuchmarkt vermuten lassen, ist dies keineswegs bloß etwas für Kinder. Hörbücher können beim Autofahren, Sport oder in Bus und Bahn rezipiert werden haben also den Vorteil, dass sie fast überall und sowohl allein als auch in Gesellschaft funktionieren. Letzterer Fall hat vor allem den Vorteil, dass Erzählungen nicht einfach so konsumiert werden, sondern gleich diskutiert werden können. Das fördert einerseits die Gemeinschaft, kann aber auch neue Räume für Kreativität öffnen.

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